Mittwoch, 9. Dezember 2009

Hände

Er betrachtet ihr Hände, die untentwegt damit beschäftig sind mit einem kleinen beinahe stumpfen Messer die Schale der Rüben zu entfernen, welche noch bis vor Kurzem direkt hinter der Hütte in der Erde weilten.
Es sind alte Hände. Hände, die viel gesehen, viel berührt und viel verletzt wurden. Man sieht noch deutlich die Stelle, an der einst ein Ring seinen Platz hatte. Es war ihr Ring. Der, den er einst in dem guten Glauben
an bessere Zeiten gekauft und freudestrahlend angesteckt hatte, als sie noch in der Stadt lebten, das Kind noch da war und man nachts sicher durch die Straßen gehen konnte.

Als sie seine Blicke bemerkt, lächelt sie in sich hinein, schält aber unentwegt weiter, während er aus dem Sessel aufsteht, zwei Schritte bis zur ihr geht und seine Arme um ihren Bauch legt, sie sanft auf die Wange küsste und sich wieder löst um die Holzscheite im Ofen nachzulegen.

Es wird noch kälter, als draußen der Wind zu heulen beginnt. Beide sitzen sie stumm da, löffeln ihre Suppe und blicken sich immer wieder an, ohne sich in die Augen zu sehen. Es ist soviel geschehen, wie können sie das, was war den vergessen.

Wie können sie vergessen, als ihr kleines Kind ihnen entrissen wurde. Wie können sie vergessen, wie es die Soldaten durch die Straße schleiften bis es am Ende wie all die anderen Kinder auf dem Marktplatz verblutetete. Wie können sie ihre Hilflosigkeit, ihre Wut, ihre Trauer vergessen. Wie können sie stumm dasitzen und nichts weiter tun als ihre Suppe zu löffeln.

Sie können es nicht, aber sie müssen, denn es sind nicht Tage, an denen man hinaus geht, vor Verzweiflung schreit und hofft, dass jemand daher kommt, den Arm um die Schulter legt und einen tröstet. Es sind nicht Tage, an denen Menschen anderen Menschen helfen. Es sind nicht Tage, an dem es irgendjemanden auf dem Planeten gibt, der nicht mit sich selbst beschäftig ist.

Sie liegen beide im Bett. Eine Decke, gefüllt mit Stroh, Sögespänen und die Wärme der Suppe hilft ihnen die Kälte erträglich zu machen. Er sieht ihre blauen Lippen und küsst sie, bis sie langsam einschläft. Dann steht er auf, deckt sie nochmal richtig zu und zieht sich an.

Der Wind ist leiser geworden und im Schein der kleinen Lampe erkennt er das Haus seines Nachbarn. Kein besonders schöner Anblick ist es. Die Schmierereien am Haus, die erkennen lassen, dass hier üblere Dinge geschahen, als man erträumen kann.

Es ist leer, aber nicht ganz. Er öffnet leise die Tür, das Knarren könnte jemanden verdächtig vorkommen und sein schnelles Ende bedeuten.

Keiner außer ihm weiß davon, dass in einem der Zimmer etwas ist, was ihm eines Tages das Leben retten könnte, auch wenn er es damit beenden wird.

Fast jeden Tag betrachtet er es. Vorsichtig hebt er es aus der kleinen Scharte. Dieses kleine, rostige Ding.

Er öffnet das Scharnier. Zwei Patronen. Eine für sie. Eine für sich selbst. Er nimmt sie hinaus, schließt die Trommel des Revolvers, zielt damit zuerst auf die Wand, dann legt er es an den Kopf an und klickt.

8 Mal.

Ein leises Sirren geht durch den Raum, der Nachhall des Schlagbolzens.

Sanft, als währen es die Hände seiner Frau, fährt er über das Metall, bevor er den Revolver wieder öffnet, die zwei Patronen in die Trommel legt, ihn schließt und wieder in das kleine Loch in der Wand schiebt, was er mit einem alten Bild verdeckt.

Auf dem Rückweg geht er jedoch nicht geradewegs zurück ins Haus, was nicht mehr als eine Hütte aus Blech, Holzleisten und ein wenig Teer ist, sondern sucht den Weg nach liegengebliebenen Zeitungsstücken ab.

Leute suchen Kleider, Möbelstücke oder Kinderwagen. Es sind alte Zeitungen. Mindestens 10 Jahre alt. Doch er hebt die Schnipsel auf, glättet sie und schiebt sie in seine Brusttasche.

Dann geht er endlich nach Hause, keiner sollte ihn gesehen haben. Er nimmt die Zeitungsstückchen heraus, legt sie auf den Tisch und beginnt sie zu sortieren.

Es knackt und knistert, was ihn daran erinnert, Holz nachzulegen. Seine Frau wälzt sich im Bett. Seit ein paar Monaten ruft sie nicht mehr so oft im Schlaf den Namen des Kindes. Am Anfang erschrack es ihn, dann wurde es ihm
so unerträglich, dass er sich kleine Papierkugeln in die Ohren stopfte. Doch mittlerweile lässt seine Wut nach und sie verliert langsam die Erinnerung daran.

Es muss bereits die halbe Nacht vorbei sein, eher er wieder zu ihr ins Bett steigt. Ihr Körper ist angenehm warm geworden. Auch ihre Lippen haben das blasse Rot wieder. Er nimmt ihre Haare, fährt mit der Nase über sie, bevor er seine Augen schließt und schläft, bis die Sonne sie weckt.

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